Bei der Berberhochzeit von Karima.

FOTOS von Karimas Hochzeit, wie immer aufgenommen von meinen Mitreisenden.

Fatima, die kleine Schwester der Braut, hat sehr geweint. Auch der fünfzehnjährige Bruder Ibrahim hat nur mühsam die Fassung bewahrt. Denn am dritten Tag ihres Hochzeitsfestes zog Karima an der Spitze eines langen Menschenzuges zu ihrem Mann und somit zu ihrer neuen Familie. Zwei ganze Tage lang hat sie zuvor Hof gehalten, saß auf einem Teppich im Gästezimmer des Steinhauses, umringt von Freundinnen. Besuch kam und ging. Die Anteilnahme wird in Berberdörfern wie diesem im marokkanischen Atlasgebirge hochgehalten.

Ein Jahr zuvor begannen die vorbereitenden Gespräche für diese Heirat. Jamal, der 24jährige Bräutigam, ist zu seinem ältesten Bruder Mohammed gefahren, hat ihn um Rat gefragt. Dieser ist seit dem Tod des Vaters Familienoberhaupt. Er hieß die Heiratsabsichten seines Bruders gut und sprach darüber mit Lahcen, dem Vater der Braut. Auch hier wurde ein Familienrat abgehalten. In einer Heiratsentscheidung sieht die Familie viel Verantwortung - zuvor waren bereits Kanditaten abgelehnt worden. Schließlich sollten die Charaktere der jungen Leute zusammenpassen. Es mußte auch geprüft werden, in welches Umfeld Karima kommt. Denn sie wird wohl mehr Zeit und Arbeit mit ihrer Schwiegermutter und ihrer unverheirateten Schwägerin teilen als mit ihrem Mann. Die letzte Entscheidung lag bei Karima: ja, sie wollte Jamal heiraten.

Im ersten Festtag nahmen wir teil an einem großen Essen für Verwandte und Freunde. Da Karimas Vater schon lange meine Reisegruppen bei Wanderungen im Atlasgebirge begleitet, kenne ich die Familie gut. So kam es, dass wir Gäste sein durften bei einem farbenprächtigen, mehrtägigen Hochzeitsfest.

Am nächsten Tag begann der Besucherstrom der Frauen, die Karima sehen und gratulieren wollten. Es wurde gesungen . Ein Kasettenrecorder war plötzlich da, und die Frauen begannen zu tanzen: lebhaft, fröhlich, stundenlang. Ermüdung wurde kaum akzeptiert – immer wieder wurden wir vom Boden hochgezogen und zum Mittanzen ermuntert. Karima hat zugesehen: auf der eigenen Hochzeit wird nicht getanzt, die Braut besucht auch nicht den Festplatz.

So um neun, zehn Uhr abends wurden die Gäste in perfekter Organisation auf verschiedene Häuser verteilt, nach Frauen und Männern getrennt. Es gab eine traditionelle Tajine: eine Art Eintopf aus Fleisch, Gemüse, Zwiebeln mit viel Sauce, gut gewürzt. Gegessen wurde jeweils zu acht aus einer Schüssel. Teller und Besteck gibt es nicht. Mit Brot werden zuerst die Sauce, dann Fleisch und Gemüse aus der Tajineschüssel geholt – nach sorgfältigem Händewaschen, wozu reihum ein Becken und Seife gereicht wird. Aus einer Kanne wird langsam warmes Wasser über die Hände gegossen.

Schließlich begannen sich die ersten Gäste am Festplatz zu versammeln. Begehrte Plätze waren auf den Dächern rundum – die mondbeschienene Szenerie schien sehr unwirklich, sehr malerisch. Viel Zeit verging - warten ist ein Begriff, den Araber nicht kennen, denke ich oft. Teppiche wurden ausgebreitet. So um ein Uhr Nacht kamen die Musiker, später dann Sänger. Frauen bildeten um sie einen Kreis, begannen zu tanzen – mit eher langsamen, kleinen Schritten, rhythmisch, reihum – ganz anders als zuvor im Zimmer bei Karima, wo Lebenslust und Temperament deutlicher gezeigt wurden. Um vier, fünf Uhr früh gingen die Gäste nach Hause.

Am nächsten Vormittag besuchten wir den farbenprächtigen Wochenmarkt im Nachbardorf und die vielen Dutzend Esel auf ihrem „Parkplatz“. Das Fest ging am Nachmittag weiter. Für die Frauen wieder mit einem Besuch bei der Braut, die auch am dritten Tag unverändert am gleichen Platz zu sitzen schien. Immer mehr Frauen kamen. Schließlich wurde die verschleierte Braut unter großer Anteilnahme ins Freie getragen, die Zuseherinnen bildeten einen engen Kreis. Karimas Hände und Füße wurden mit breiartigem Henna, das die Haut rotbraun färbt, völlig bedeckt. Dies machen nur verheiratete Frauen. Man sah an den Reaktionen und an Karimas Tränen, dass dies eine sehr wichtige und emotionale Szene war.

Schließlich war es so weit. Ein Esel oder eigentlich Muli wurde herbeigeführt, auf ihm saß ein junger Verwandter. Er trug eine weiße Djellaba (Kapuzenmantel) aus Wolle, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Die mit einem roten Tuch verschleierte Karima wurde von Frauen aus dem Zimmer getragen und hinter den Mann auf das Tier gesetzt. Sie hielt einen silbernen Dolch in der Hand. Fünf Frauen folgten ihr. Sie trugen auf dem Kopf einen Koffern oder am Rücken ein großes Bündel mit Karimas Besitz. Der älteste Teppich aus dem Haus ihrer Eltern war dabei – diese Antiquitäten werden den Töchtern bei der Heirat weitergegeben, ebenso der Anteil am Familienschmuck und zwei bis drei gewebte Wolldecken - die Familie des Bräutigams sorgt im Ausgleich für eine Wohnstatt. Ich konnte es kaum fassen, dass sich Hochzeitszeremonien in Indien und bei den Berbern so ähneln: in beiden Fällen reitet die Braut auf einem Muli bzw. Pferd von ihrem Elternhaus in ihr neues Heim, vor sich einen Knaben oder jungen Mann, der die Fruchtbarkeit symbolisiert.

Obwohl Karimas Mann im gleichen Ort wohnt, musste der Festzug ein Bachbett überqueren und dauerte wohl eine Dreiviertelstunde. Die Eltern blieben zurück – der Vater sah der Tochter von der Terrasse aus nach, die Mutter weinte an ihrem Aussichtspunkt bei einem Hauseck.

Die Braut wurde in ihr neues Heim getragen, und vor der großen Hochzeitszeremonie ging es wieder ans Essen. War am Vortag die Familie der Braut dafür zuständig, so war es jetzt die des Bräutigams. In und auf vielen Häusern waren Gäste. Wir wurden auf ein mit Teppichen ausgelegtes Dach geführt, wo wir mit über hundert Frauen drei Stunden verbrachten: singend, redend, schweigend, Tee trinkend. Immer wieder einmal legte sich jemand hin, um ein bisschen zu dösen. Schließlich wurden wir zum Essen aufgeteilt auf viele Häuser. Bei uns gab es je zwei Hühner in einem Topf mit Mandeln und Sauce, dazu Brot. Verwundert sahen wir, dass einige alte Frauen immer wieder Fleisch in ein Säckchen knapp unter dem Tisch steckten - Verwunderung unsererseits. Später haben wir nachgefragt: Frauen, die aufgrund fehlender Zähne das Fleisch nicht essen können, dürfen ihren Anteil mitnehmen, um ihn zuhause zerkleinert zu genießen... Als Nachtisch gab es einen Berg lockerer dünner Nudeln mit Rosinen und Gewürzen. Und natürlich Tee.

Am Festplatz vor Karimas neuem Heim dröhnte die Festtrommel im Herzschlag-Rhythmus, später langsam schneller werdend. Der Kreistanz der Frauen hatte, inzwischen Mitternacht, gerade begonnen. Rundum, auch wieder auf den Dächern, viele ZuseherInnen. Und dann wurden sie herbeigeführt, die tief verschleierte Braut und der Bräutigam mit der ins Gesicht gezogenen Kapuze. Zuerst tanzte die Braut mit den Frauen. Es folgten einige Zeremonien. Gegen vier Uhr früh wurden beide ins Haus des Bräutigams geführt. Ich dachte, dass Karima das Hochzeitsfest nun würdevoll überstanden habe. Doch da wurden beide von der anderen Seite nochmals herbeigeführt, die Zeremonien wiederholten sich. Warum das? Erst am nächsten Tag haben wir verstanden: das war ein zweites Brautpaar, optisch auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden. Aus Kostengründen werden oft mehrere Hochzeiten zusammengelegt.

Einige Tage später haben wir das Brautpaar besucht. Eine Woche lang wird Besuch empfangen, und die Nachbarn laden der Reihe nach das Paar zu sich ein. Jeden der sieben Tage muß die junge Frau ein neues Kleid tragen, Hochzeitsgeschenke ihres Mannes . „Wie geht es Dir?“ fragen wir. „Gut“, sagt sie und lacht, auf dem Kopf den schweren Hochzeitsschmuck aus roten Stäbchen und Silbermünzen. Die Familie ist modern, ein Doppelbett steht im Zimmer, auf dem das Paar sitzt. Darüber ein gespanntes Seil, an dem die Kleidung hängt. An zwei Seiten des Bettes ist noch etwas Platz, vielleicht einen Meter breit. Da sitzen die Besucherinnen auf Teppichen. Sofort gibt es gewürzten Kaffee und Kekse. „Wie alt ist Karima?“ frage ich den Bräutigam auf französisch. „Achtzehn“, meint er. Ich bin erstaunt: ihr Vater gab ihr Alter mit 21 an. Daraufhin antwortet Karima selbst: „Neunzehn“. Wie unwichtig!

„Warum wolltest Du gerade Karima heiraten?“ Der junge Mann strahlt: “Weil ich Karima liebe“, sagt er, und wir sind gerührt. Er kennt sie seit 1996, als beide noch in die Schule gingen. Seine Mutter und die im Haushalt lebende unverheiratete Schwester erscheinen, fröhliche, lebhafte Frauen. Hier wird Karima es gut haben, dachte ich. Die drei Frauen werden nun alle Arbeiten abwechselnd erledigen, also jeden dritten Tag wieder dieselbe: um 7 Uhr früh die Kühe melken, Frühstück machen, die Kühe zwei bis drei Stunden hüten und dabei Gras sicheln, kochen auf einem Topf, der über dem Feuer auf drei Steinen aufsitzt, waschen, stundenlang Holz suchen usw. Alle vier Tage wird gesalzene Butter hergestellt, die als Notvorrat zehn Jahre und länger hält. Um 18 Uhr gibt es Kaffe, vielleicht ist Besuch da oder man besucht jemanden. Um 21 Uhr Abendessen, dann Abwasch, um 23 Uhr ist Nachtruhe. Wenn Karima schwanger wird, erledigen andere Frauen ihre Arbeit und sie hütet dafür deren Kinder.

Vor den Feierlichkeiten hat das Paar den offiziellen Ehevertrag unterzeichnet. Darin wird unter anderem festgehalten, wie viel Geld die Frau im Falle einer Trennung erhält. Oft sind es so um die 1000 € - zusätzlich zahlt der Vater für die Kinder, bis sie 18 Jahre alt sind. Für den Mann ist es einfach, sich von seiner Frau loszusagen, ohne jede Anhörung durch ein Gericht. Dass dies geändert wird, ebenso das Erbrecht und die Polygamie verboten, das wünschen sich moderne Marokkanerinnen – neben anderen Dingen. Marokko zählt zwar zu den sehr armen Ländern der Welt, wird aber als fortschrittlich gesehen. Der junge König hat mit Fundamentalismus nichts im Sinn. Und seine Frau ist berufstätig – ein starkes Zeichen. Noch eine Generation vorher war es ganz anders: die Frau des Königs, Mutter des jetzigen Monarchen, trat ganz traditionell nie in der Öffentlichkeit auf, es gab von ihr kein einziges Photo. Heute sind 35% der Lehrstühle an den Universitäten von Frauen besetzt (5% in Deutschland!). Auf der anderen Seite können 68% der Bevölkerung nicht lesen und schreiben, meist Frauen. Der Anteil von Schülerinnen an höheren Schulen beträgt 40%. Für viele Mädchen dennoch unvorstellbar. Sie leben in Dörfern, von denen über 80% weder Fließwasser noch Strom haben. Wohl aber Grundschulen – dieser Ausbau gelang inzwischen. Eine Welt der vielen Gegensätze. Traditionelle und moderne Werte nähern sich an. Der Weg ist weit.

Karimas Welt liegt wohl in der Mitte. Sie ging bis vor kurzem in die Schule, und in ihrem Dorf gibt es Fließwasser und Strom. Ihr Vater lebte einige Jahre in Spanien, ist aufgeschlossen. „Warum bist Du eigentlich zurückgekommen? Wo doch viele Marokkaner aufgrund der schwierigen Verdienstmöglichkeiten von einem Job im Ausland träumen“, hab ich ihn einmal gefragt. „Weißt Du“, hat er gemeint, „dort war ich niemand, aber hier bin ich wer.“ Dieses Selbstbewusstsein merkt man auch seinen drei Töchtern an, dem Sohn sowieso. Als ich die beiden Jungvermählten fragte, was sie sich vom Leben wünschen, meinte Jamal: dass es gut weiterginge mit Karima und ihm, der Familie, seinen zeitweiligen Jobs als Chauffeur und Verkäufer, den zukünftigen Kindern. Karima überlegte nur ganz kurz und sagte dann lachend, was sie vom Leben erwarte: "Alles." Ich wünsch es ihr.

Inge Sohm