Gerhards Indien-Fragmente von unserer Tour in Rajasthan und seiner Verlängerungswoche in Goa. Meine Empfehlung: ausdrucken und genießen!
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Vagatorbeach in Nordgoa am frühen Vormittag. Fotoshooting für eine deutsche
Modezeitschrift. Ein Kameramann, der über veraltetes Equipment flucht. Sein Assistent, der
sich mit einem riesigen Antisonnensegel im Nacken in der steifen Brise verbissen gegen den
drohenden Segelflug wehrt. Ein Fashionberater im lila Jacket, der unter schnalzenden
Kommentaren umstehender Inder immer was in Brusthöhe des Models zu fingern hat,
obwohl es da ohnehin nicht viel zu verstecken gibt. Viel zu fummeln hat auch die Stylistin -
immer ist eine Haarsträhne nicht dort wo sie sein soll, glänzt plötzlich die Nase statt der
Augen und schon staubts aus der Puderdose. Das Model -extra aus den Staaten
eingeflogen- wirkt übergroß, unterernährt und in allen Belangen blasser als die quirlige
Strandverkäuferin. Die folgt den Hektikern auf Schritt und Tritt, steht nie direkt behindernd
im Weg und transponiert ihren Singsang an Anpreissprüchlein in hypnotischen
Halbtonschritten die FünfTonleiter rauf und runter.
Die Auftraggeberin selbst, bewaffnet mit dickem Notizblock und in steter Diskussion mit
dem Lilamann liebäugelt mit einem Hundebaby vom Strandcafe als Dekoidee: "Oh, its sooo
sweet – its perfect, isnt it ?" Dem krebsroten Helfer, der ob all der Schlepperei in
mittlerweile praller Mittagssonne den Kleiderständer voller Sommerfähnchen jetzt schon
zum wiederholten Male demonstrativ vehement in den Sand setzt, scheints egal zu sein.
Nach zwei Stunden diskutiert das Team erste brauchbare Abzüge und die knappe
Terminsituation. Noch ist kein Katalog fertig. Ob sich Kosten und Nerven für diesen
ThreeDayJump rechnen, kommt noch erschwerend hinzu. Das bunte Indermädel hingegen
jubelt den Modefuzzis durch sanft nervende Präsenz bei immer weniger Gegenwehr in
diesen paar Stunden ein ganze Kollektion von beautiful Tüchern, very cheap Halsketten,
good prize Armbändern, nice Fußketttchen plus einem looking good Wandbehang zum extra
unverschämten Mal-Zehn-Ausrufpreis unter. Thats business!
Im Sitaram-Basar finde ich Moraji, einen von 2000 Badern, die in irgendeiner Nische, am
nächsten Häusereck, zwischen zwei geparkten Autos, einen Stuhl aufstellen und zu arbeiten beginnen. Gegenüber Morajis Standplatz hat das Indian Coffeehouse geöffnet: ein
Wandschrank mit ein paar Tassen im Regal und einer verbeulten Espressomaschine auf dem
Trottoir. Der Kaffee schmeckt. Während wir austrinken, bleibt eine Kuh stehen, wirft mir
einen flüchtigen Blick zu, uriniert, sieht mich wieder an, fladet. Ein Frau im Sari muss
blitzschnell ausweichen, ein Kind will meine Schuhe putzen, eine Ziege nimmt ein
Sonnenbad, über Lautsprecher warnt die Polizei vor Taschendieben, die Straße ist
hoffnungslos verstopft, die Rasur kann beginnen.
Hinterher ist Moraji böse. Weil ich keinen Haarschnitt brauche. Wenigstens Öl, meint er.
Sein Lächeln hätte mich warnen sollen. Der Mann ist Kopfjäger, ein Catcher, ein Dominator.
Schmiert mir braunen Talg auf die Schädeldecke, nimmt alle seine zehn glitschigen Finger,
um mich einzufetten, mangelt die Schläfen, presst die Stirn, fegt die Nasenlöcher, zupft die Lider, biegt die Ohren, reinigt die Muschel, holt das Schmalz, packt blitzschnell mit beiden Händen den Kiefer und reißt Mensch und Kopf nach rechts aus dem Stuhl - synchron mein Aufschrei und ein Knacken -, wiederholt den Ruck nach links, wieder mein Angstgurgeln und das Geräusch ausrastender Wirbel und Knochen, jetzt lande ich im Schwitzkasten, mein Rücken biegt sich nach vorn, Moraji platziert einen Genickschlag, die Rosskur ist beendet.
Etwas Eigenartiges passiert: Sofort und völlig unbewusst greife ich nach meinem Kopf. Er ist noch da, fühlt sich so leicht an, so schwerelos. Moraji strahlt, ich leuchte.
Wenn Einheimische zum gemütlichen Sit-in laden - und das passiert dir in Indien alle Nase lang- wenn sie dann dafür hart bespannte Holzbetten ins Freie stellen, Familie Nachbarn und Freunde im Kreis um dich versammeln und viel von dir wissen wollen - dann wird er serviert. Ist man länger als fünf Minuten in einem Geschäft, dauert das Feilschen um ein edles Stück ein bisserl länger, ist das Warenangebot mit dem dich der Verkäufer überhäuft so umfangreich, dass du beinahe darunter begraben wirst - für ihn ist immer noch ein Plätzchen neben dir frei. An jeder Straßenecke brodelt er in riesigen Töpfen, Händler mit tragbaren Rundgestellen bringen ihn unter die Leute in den Marktgassen. Sein Duft vermischt mit dem von Räucherstäbchen, dampfenden mit Gemüsebrei gefüllten
Teigtaschen, süßlichem Wasserpfeifentabak und Kameldung in lodernden Feuern vor
Nomadenzelten dominiert die geschäftigen Morgenstunden.
Nur simplen "Chai" zu bestellen reicht in Indien noch nicht, um wohlduftenden, mit Ingwer,
schwarzem Pfeffer, Zimt, Nelken und noch mehr gewürzten Schwarztee mit eingerührter
Milch zu kriegen. Unkundige erhalten dann nur simplen Milchtee, wässrig, von
undefinierbarer Farbe und wundern sich, warum der Inder am Nebentisch den Inhalt seines
Glases auf die Untertasse schüttet. das Getränk von dort aus lautstark schlürfend zu sich
nimmt und dazu eine kleine Schüssel kalten Bohneneintopf mit viel Zwiebeln löffelt. "Local
Breakfast" argumentiert Dilip, mein Taxidriver verschmitzt und legt für dieses seltsame
Morgenmenü vier Rupies (= 7 Cent) auf den Tisch. Ich berappe für meinen
automatenverdächtigen Nescafe das 10fache - es lebe der Heimvorteil.
Um etwas nach Art des Hauses gewürzt zu erhalten, gibt es das Zauberwort "masala".
"Masala-Chai please" lautet die Parole, um einen neuen Tag in Indien mit einem heißen Glas
der Superlative zu begrüßen. "Masala" ist aber auch - Curry. Wobei die indisch-kulinarische
Variante rein gar nichts mit dem immer gleich sattgelben Pulver zu tun hat, das dir der
Würstelstandbesitzer zuhause über den grob zerschnippelten Schübling pudert. Jeder
Haushalt, jedes Restaurant, jeder Garküchenstand in Indien hat sein Masala-Curry-
Geheimrezept und keiner verrät dir die Namen der zig Gewürze seiner Hausmarke oder zu
wie viel feinen Anteilen man sie mischt. Obwohl nach längerer Testphase kreuz und quer
durch nicht mehr enden wollende Speisekarten irgendwann einzelne Gerichte zu
hmmmmFavoriten avancieren, ist jede namentlich gleiche Speise -je nachdem wo
eingenommen- immer eine Überraschung. Da verwandelt sich auch mal ein als bisher
mediumspicy -fast harmlos- eingestuftes Essen beim nächsten Versuch in ein flammendes
Inferno mit Spätzündereffekt. Allerdings - so scharf die Angelegenheit dann auch wird - der Eigengeschmack all der guten Sachen, die da stets knackig und in satten Farben auf dem Teller landen, geht nicht verloren. Ich gebe zu, dass auch mein Rachen des öfteren dem eines reinkarnierten Drachen glich - aber Reis und Naan, leckeres Fladenbrot aus den dicken Lehmöfen plus literweise bottled water erwiesen sich im Extremfall immer noch als die besten Feuerlöscher.
Ich musste daher lächeln, als einer meiner Reisekameraden - in den ersten Indientagen von
uns noch liebevoll mit "Plain-Rice-Esser" tituliert und seinen Verdauungstrakt sorgsam
hütend, dann aber immer mutiger werdend- beim Rückflug fast demonstrativ sein
Pfeffersäckchen und das seiner Frau über das typisch europäisch sanft gewürzte Air-India-
Menü stülpte. Entzugserscheinungen ??
Balbir ist Masseur. Seine Werkzeuge: eine leichte Strohmatte, das Senföl, seine begabten, grausam-zärtlichen Hände. Für ein paar Rupies verabreicht er eine "fullbody massage", Ausziehen inklusive. Mitten in der Stadt liege ich in Unterhosen da. Eine Kuh schleckt der anderen den Hintern, Kinder spielen Fangen, begnadete Nichtstuer genießen das Nichtstun, neben mir lässt sich Aril -mein Fahrer- die Waden kneten. Ich rieche Charas, das feine indische Haschisch, die Einladung zum Mitrauchen kommt prompt.
Ein Sadhu krächzt "RamRam", aus dem nahen Shivatempel klingen die Glocken und Becken
des Morgengebets, die Rangierloks vom Bahnhof quietschen herüber, Balbir massiert, ich
schreie, ich schnurre. Mein Skelett rumpelt, ich schließe die Augen und erfahre, wie jemand
meinen Leib quetscht, ihn streckt, ihn schrumpft, auf ihm trampelt und bodenturnt, ihm
Arme und Beine melkt, sich mit den Knien in meine - jetzt nackten - Hinterbacken bohrt, die Füße verbiegt, sie ausrenkt und wieder einrastet, höre wie durch Watte das Gekicher der Umstehenden über den haltlosen Schwächling, der eine harmlose Massage intoniert, spüre Balbins eigenen Hintern auf meinem Lendenwirbel, ahne, dass noch lange kein Ende sein wird, gebe mich hin, wimmere weiter, fühle den hartnäckigen Willen des Inders, mir das zähe Fleisch zu schrubben und es zu schuppen, ihm endlich - endlich - wohl zu tun, es still zu legen und zu besänftigen. Ich ruhe, zähle meine Glieder ab, bin vollzählig.
Mahabir ist nicht Hindu, nicht Muslim, nicht Sikh, Mahabir ist ein Jaina, Anhänger des
Jainismus: sehr beeinflusst von Buddha, aber noch viel radikaler, viel sanfter. Aller
Menschen, aller Tiere, aller Welt Freund. Wenn ich mich ihm gegenüber setze, dann ohne
Schuhe, Gürtel und Geldbörse. Alles aus Leder - was den Tod eines Tieres bedeutet hat.
Und was meine Wiedergeburt als Schlachtvieh zur Folge haben wird. Zur Bestrafung, zur
Bewußtwerdung.
Mahabir vermittelt eine spektakuläre Erfahrung. Er lehrt nicht, will nicht besserwissen,
erzählt seine Einsichten, klar, heiter, sehr intensiv. Einmal nimmt er mich mit zu seinen vier
Gurus. Oben auf den Dächern der Tempel leben sie, jeder für sich. Blick auf Häuser, fern
und leise der Verkehr. Ein Buch liegt vor ihnen, daneben die Wasserkanne zur Reinigung
nach dem Stuhlgang und der Wedel aus Pfauenfedern. Wo immer sie sich setzen, mit ihm
wird vorher der Boden gewischt, um auch nicht das kleinste Insekt zu töten.
Die Gurus sind nackt. Auch nackt, wenn sie nach ein paar Tagen weiterziehen. Die
vollkommene Blöße und der immer nur kurze Aufenthalt an einem Ort sollen verhindern,
dass Beziehungen, dass Abhängigkeiten zu Dingen und Menschen entstehen. Jeder hat
Freunde, Familie aufgegeben, hat alles, absolut alles, hinter sich gelassen. Das Ziel ist: leer
werden für eine von jeder persönlichen Vor-Liebe freien Liebe. Ein strenges Leben. Zwei
Stunden Schlaf, und selbst die werden nach 48 Minuten für ein kurzes Meditieren
unterbrochen. Einmal am Tag essen, morgens. Im Stehen, Chapati und Milch. Ich verstehe
nichts von begierdeloser Liebe, kann nicht leben mit Brot und Milch und 120 Minuten Schlaf, spüre aber, dass ihnen dieses Leben guttut. Ihre Ausstrahlung, ihre souveränen in sich ruhenden Augen, diese vollkommene Abwesenheit von Eitelkeit.
Es ist Zeit für "Darshan", Zeit für sie, Besuche zu empfangen, zuzuhören und Vorschläge zu
machen. Auch Frauen kommen. Und nichts ändert sich. Die Frauen erzählen, und die
splitternackten, straffen, gar nicht alten Männer - einen Meter entfernt - nicken, antworten.
Nicht die Nuance einer verschämten Handlung, um abzudecken, zu vertuschen. Hinreißend.
Das macht dem Jainismus keine Religion der Welt nach.
"This is no hotel - this is your home" tönt der Besitzer des kleinen Hotels in Pushkar stolz
beim Einchecken - und er meint, was er sagt. Als ich es mir dort irgendwann um 3 Uhr
morgens leicht genervt ob dem Geheule liebestoller Nachbarshunde auf der Dachterrasse
gemütlich mache, steht plötzlich einer seiner Söhne mit dampfendem Teekessel vor mir.
"This drink is for a good sleep" orakelt er grinsend, unterdrückt ein Gähnen und ist auch
schon wieder weg, Richtung Bereitschaftsliege neben der Rezeption. Recht hat er - die
deftige Mischung aus Lemongrass-Tea mit einheimischen Rum schmeckt wie bester
Skihüttenpunsch und biegt mich pronto in die dicken Polster des RiesenRattanstuhls. Null
Nebenwirkungen lassen mich bei Sonnenaufgang meiner gedämpften Begeisterung für die
Ausdauer einiger Hare-Hare-Marathonsänger im Ashram nebenan ganz relaxt und auf die
Friedliche per Löffel-Percussionsgeklopfe auf einem leeren Riesenhäferl Ausdruck verleihen.
In Rajasthans meist 100% vegetarischen Restaurants ist es völlig normal, dass zum
Zeitpunkt deiner Bestellung nicht unbedingt alles dafür Erforderliche verfügbar ist. Das
quirlige Personal ist darauf eingestellt und hat Beziehungen zu jedermann in Reichweite
schneller Füße wenn es darum geht, von irgendwoher eiskaltes Coke oder frische Zutaten
aufzutreiben. Mehr Platz für Gäste statt Kühl+Stauraum zu haben funktioniert, wenn man
weiß, wie man wo was schnell bekommt und ist eine für alle Beteiligten lukrativkommunikative Auslegung gesunder Nachbarschaftshilfe in einer ihrer wohl reinsten Form.
Fragst du irgendwen nach dem Weg, zeigt der dir nicht nur die Richtung, sondern begleitet dich nach Möglichkeit dorthin. Bist du dann -zu wissen bedeutet nicht immer dasselbe meinen- immer noch an der falschen Adresse, ist dein stets gut gelaunter Pfadfinder "joking is good for health" schon bemüht, einen Ortskundigeren zu finden. Um Orientierungsläufe dieser Art zu vermeiden, schwingt man sich am besten auf den Rücksitz eines Auto/Motorrad/Tuktuk oder Fahrradtaxis. Was ungeplante, sehr ausgedehnte
Stadtrundfahrten trotzdem nicht ausschließt.
Immer die Ruhe bewahren - unvorhergesehene präzise Richtungswechsel wegen
ungeschriebener Verkehrsregeln ausbalancieren, dem geheimen Hup-Alphabet auf die Schliche kommen wollen, den nie nervösen, ab und zu etwas laut werdenden aber verdammt konzentrierten Fahrer insgeheim bewundern, experimentelle Wackelbilder vom dich umgebenden und blendend funktionierenden Chaosuniversum Strasse schiessen, erst am definitiv richtigen Zielort aussteigen, trotz massiver Überschreitung der Sollzeit den Tarifpreis um einen Aktivitybonus erhöhen, und lächeln, auch wenn der BüroHintern noch so schmerzt, immer nur lächeln.
Eine Zugfahrt von Delhi nach Ajmer dauert mehr als 6 Stunden in der AC-Chair-Klasse,
einer schlauen, fast gleich guten aber halb so teuren indische Alternative zur 1. Klasse.
Nach Sandelholz und Patchuli duftende NoSmoking-Waggons ähnlich einem ICGrossraumwagen mit massig Platz für müde Langbeine und SouvenirGepäck. Kaum
Europäer unter lauter neugierig netten Einheimischen, die wie ich den Service -Fingerfood,
Chai, Wasser, Erfrischungstücher inklusive- plaudernd geniessen. Die WC-Anlagen splitten
sich sinnigerweise in "local" und "western" , verzichten bei letzterer Version zum Glück auf
stylische Schwingtüren und geben dir beim verstohlenen Blick durch das Plumps+Guckloch
das seltsam vertraute Gefühl von absoluter Kontrolle und Balance bei höchstmöglicher
Reisegeschwindigkeit. Bevor ichs vergesse - der Fahrpreis, umgerechnet etwa knappe 5
Euronen!
"Eine Stunde, zwei Stunden, ja die ganze Nacht garantiere ich eine volle Erektion !!"
Spannung in den Gesichtern der Zuschauer. Ismail kennt sich aus, legt noch zu,
erschwindelt Großtaten fulminanter Liebeskraft. Dann schlitzt er dem Leguan mit einem
Rasiermesser die Kehle durch und den Bauch auf, nimmt das Fettgewebe heraus und wirft
es in die Pfanne. Das heiße Öl gießt er in einen Behälter, brät nun die Dotter von zwölf
Eiern, plappert weiter, mischt bei, ruft die Namen magisch klingender Zutaten, erwähnt
Skorpionblut und verschwindet fast im Rauch seiner schwarzstinkenden Hexenküche.
Leguanöl und Dottersaft werden am Schluss vermengt und in flakonähnliche Fläschchen
abgefüllt.
Die Kundschaft drängt bereits, ganz und gar heiß geredet: Die Aussicht auf ein strammes,
zuverlässiges Männerglied euphorisiert. Seit 34 Jahren verspricht Ismails Familie - zuerst
der Vater, nun der Sohn - ein einsatzfähiges Geschlechtsorgan. Im Umkreis von 50 Meter
garantiert das noch ein halbes Dutzend anderer Weismacher. Sämtlich "specialists", alle mit
einem "diploma" und der wunderbaren Gabe, Lügengeschichten zu erzählen, alle mit
jahrhundertealten Geheimrezepten für ihren verführerischen Hokuspokus. Salben, Puder,
Pillen - jeder hält jeden für ein Schlitzohr, keiner redet dem anderen dazwischen, sie leben
bestens, der Markt ist riesig und gläubig. Indische Männer sind verrückt nach Sex. Die
logische, die biologische Folge einer prüden öffentlichen Moral. Immer fragen sie mich aus
nach der Liebe in Europa, und niemals sehe ich einen Mann und eine Frau sich küssen,
niemand umarmt Hüften, streichelt Nacken. Der Gründe sind viele. Der Einfluss des
unduldsamen Islam, der Zusammenstoß des sinnlichen Hinduismus mit dem korsettfrigiden
Viktorianismus, die aktuelle Politik der schamlosen Heuchlerei.
Ismail, der Leguantöter, zahlt jede Woche 400 Rupien an die in seinem Stadtteil patrouillierende Polizei, um ungestört - und steuerfrei - sein dottergebackenes Aphrodisiakum verhökern zu können.
Aber Indien wäre nicht dieses millionenundeinmal sich widersprechende Land, wäre nicht
alles auch wieder ganz anders: Fünf Meter große, liederliche Frauenzimmer in prallen Blusen
blicken lüstern von Filmplakaten auf Heerscharen brennender Männeraugen. An jeder
zweiten Apothekentür sieht man einen steinernen Gott an den Himmelskurven seiner Göttin
spielen - Poster für "feurige" Kapseln. Mitten in Chandi Chowk hängt eine breite Tafel:
"Consult for early discharge". In welcher Stadt sonst weiß man so schnell, wo ein vorzeitiger Samenerguss behandelt werden kann?
Kamelmarkt in Pushkar, 6.30 Sonnenaufgang. Ein englisches Kamerateam sperrt den
Bereich um einen Riesenhaufen Kamelfutter samt archaischer Steinwaage für möglichst
chillige Fotos klotzig schwarzer Designermöbel. Diese werden im Minutentakt abgestaubt
und stehen im Morgenlicht in bedrohlichem Kontrast zur sie umgebenden Wüstenlandschaft.
Neugierige Nomaden, hungrige Kamele und mehr amüsierte als interessierte Adabeis aller
Schattierungen dabei im richtigen Moment aus Gegenlicht und Panoramabild zu halten, lässt die Männer hinter den Stativen zur allgemeinen Erheiterung irgendwann fast Amok laufen.
Ein paar Meter weiter legen wild zerfetzte Ledersandalen eine wohl durchdachte Spur von
Vergänglichkeit gegerbten Tierfells in Richtung eines gemütlichen Bretterverschlages, wo ein Schuster für die rauchende, teeetrinkende, gestikulierend kommunizierende und sonst
durchwegs barfüßige Kundschaft im Akkord neue Fußbekleidung schneidert. Dem geht die
Produktion im Plauderton mit allen Anwesenden ungemein professionell rasant und doch
sehr locker entspannt von der Hand. Neu ankommendem Nomadenvolk und mir wird hier in
punkto Zielgruppenwerbung und handwerklich perfekter Ausführung auf die
Unmissverständliche vermittelt, wo und wie jedermann nach einem anstrengenden
Wüstenritt ruckzuck zu neuen Tretern kommt. Best promotion for simple people!
Bollywood boomt, jeder in Indien ist Entertainer.
Da lässt auch ein Opa vom Land mal den Wasserbüffel stehen, spurtet in seine Hütte, bindet sich blitzschnell den farbenprächtigsten seiner Rajasthani-Turbane, setzt die fast
mannshohe Wasserpfeife unter Dampf und stützt sich auf den verstohlen hustenden Enkel,
währen Oma (95) - beide Hände auf den respektvoll geneigten Köpfen ihrer erwachsenen
Söhne - breitbeinig und kerzengerade auf einem Schemel daneben sitzt und mit Schalk in
den Augen mit den blauen, großen Steinen um ihren Hals um die Wette funkelt. Die nach
ein paar Minuten fast komplett versammelte Dorfgemeinschaft baut unter viel Geschubse
und in stetig abnehmender Distanz mit teilweise halsbrecherischem Übermut wackelige
Menschenpyramiden. Als Fotograf ist man ruckzuck umzingelt - ohne Berührungsängste
werden erste akzeptable Ergebnisse auf dem Digi-Display belacht und im Chor der Wunsch
"please send me foto" geäußert.
Heilige Männer, gerade eben noch meditierend und züchtig verhüllt, reissen sich an den
Ghats an Pushkar´s heiligem See zur Überraschung aller schon mal das orange Outfit von
trotz hohem Alter begnadet definierten Körpern, stecken ihren Schniedel nach hinten durch
die Beine, fixieren das ganze mittels beider Arme und einer dicken Bambusstange hinter
dem Rücken und balancieren darauf jedes europäische Schwergewicht, das wissen will, wo
der Hammer hängt - von Nachahmungsversuchen in heimischen Schlafzimmern wird
dringend abgeraten. Fühlt sich ein Koch bei der Arbeit beobachtet, wird der frische Kingfisch mit extra riskant schnell geführten Riesenmesssern auf Tellergrösse getrimmt - eine Jam- Session auf heissen Pfannendeckeln gibts dazu noch als Draufgabe.
Bei Frauen, die sich anfangs noch verschämt ein Stück ihres Saris vors Gesicht ziehen, lüftet ein freundliches Gesicht bei nettem Um-Erlaubnis-Fragen so manchen Schleier vor
Schönheit, die weder des Krönchens noch der Schärpe bedarf. Während der ganzen und
nach jeder sichtbar gerne gewährten Fotosession, unterbrochen von unschlagbarer
Standup-Performance, steht immer ein selbstbewusstes breites Lächeln in den Gesichtern.
Ich liebe dieses Lächeln.
Überall in Indien fällt auf, dass auch an niederste Arbeiten mit schier unerschöpflichem
Ideenreichtum, begeisterndem Einsatz und bewusst positiver Körpersprache -ja fast
rituellen Bewegungsabläufen- herangegangen wird. Jede(r) hat immer etwas für jemand zu
tun und macht dies augenscheinlich für jede(n) gerne. Ist kein potentiell interessierter
Kunde in Sicht, werden geringfügige aber sofort sichtbar prägnante Änderungen der
Warenpräsentation vorgenommen, Beziehungen zum benachbarten Laden aufgefrischt oder
man unterzieht sich selbst kurz einem persönlichen Spiegelcheck und testet bei der
Gelegenheit die neueste angesagte Räucherstäbchenduftnote.
Welch unliebsames Erwachen, wenn einem nach der Rückreise schon die Bedienung im
Flughafenrestaurant Frankfurt mit essigsaurer Miene, auf den Tisch geknallten Gläsern und
militant forscher Abkassiermethode klar zu verstehen gibt, dass ihr Gäste (die mit satter
an eure Gesichter, Namen, noch zigJahre später gut erinnern.
Urlaubsbräune wahrscheinlich doppelt) ihr Job im Speziellen und Business im Allgemeinen
wieder mal extrem am supersize Allerwertesten vorbeigehen.
Dem mitteleuropäischen Besucher öffnet Indien eine völlig neue Dimension an möglichen Definitionen zum Thema Armut. Delhi ist in dieser Hinsicht wohl der Hardcore-Einstieg, vermittelt ein krankes Zerrbild menschlicher Tragödien - zwingt Indien-Neulinge oft schon nach wenigen Stunden auf der Straße kreidebleich wieder zur Rückkehr ins vermeintlich sichere Hotelzimmer. Immer den Blick gerade aus - nach Möglichkeit nicht auf den Boden sehen.
Man blickt in tote Augen, deformierte Gesichter, verstümmelte Körper kriechen, robben,
liegen überall. Hinter vorgehaltener Hand wird gemunkelt, diese Leute würden nachts von
der Straße geholt, unter Drogen gesetzt, in Fabriken fachmännisch zersägt und dann täglich als lebende Opferstöcke an touristischen Hotspots der Stadt deponiert. Mütter in zerlumpten Saris verstecken hinter dreckigen Tüchern Gold in Nase und Ohren, strecken einem mit einer Hand den blanken Hintern ihrer Kleinkinder ins Gesicht (keine Unterwäsche ist gleich arm - angenommenes westliches Denkmuster ?) während die andere in Höhe der Geldgürtel unter verschwitzten Hemden fordernd zuckt. Die Englischkenntnisse der Minderjährigen beschränken sich vorerst altersunabhängig und nach Priorität geordnet auf " 10 Rupies, school-pen und schocolade ". Das fast schon formal angehängte "please" kann je nach schauspielerischem Talent mittels Mimik und Tonlage von weinerlich bis agressiv variieren - wobei gut kopierte Markenkleidung und mühsam unterdrücktes Lachen der fast spielerisch vorgetragenen Bettelshow keinen Abbruch tut .
Wem gibt man was - und wenn, wieviel ? Dieses Dilemma löst kein Tip im Travelguide, kein
gutgemeinter Rat eines Reisebegleiters, auch kein großzügiges Spenderherz (dazu sind es
einfach zu viele) sondern jeder individuell für sich. Ist man länger in diesem Land unterwegs trifft man auf sie - Kinder, die in dünne Decken gewickelt unter freiem Himmel schlafen und dir - von deinen zu lauten Schritten halbwach und übers ganze Gesicht lächelnd - im Chor ein fröhliches GoodNight auf den Weg ins warme, saubere und gemütliche Gästehaus mitgeben. Dann freue und schäme ich mich zugleich.
Oft gehe ich zum Nigam Bodhghat, dem Platz, wo die Hindus ihre Toten verbrennen. Vor
den Toren des Basars, direkt am Fluss Yamuna, der aschgrau vorbeifließt. Jede Nacht
leuchten um die zehn Scheiterhaufen. Ein paar Stunden dauert es, dann züngeln Flammen
aus den leeren schwarzen Augen, der Rumpf richtet sich auf, Fleischfetzen knallen, Rauch
treibt zwischen den Zähnen hervor. Das ist ein guter Abschied: dableiben und zuschauen,
wie ein naher Mensch verglüht. Zeit für letzte Vorwürfe, für ein letztes Verzeihen. Es ist
ruhig, eine Kuh wärmt ihre Haut, zerzauste Hunde, eine Ziege stochert in alten Knochen.
Von einem winzigen Krishna-Tempel kommt das glückliche Geschrei eines Brahmanen. Eine
Stunde am Abend umwandert er sein Heiligtum, wirft die Arme hoch und ruft: "Hari om !".
Arul raucht, hustet, die Kuh sucht sich eine andere Leiche als Heizkörper, eine Frau weint
leise, Nebel fällt.
Einmal um diese Zeit treffe ich Nakim. Er ist Bauarbeiter auf einer kleinen Brücke, kann
nicht schlafen, sitzt auf seinem Feldbett. Neben ihm ein Haufen Kies und Sand. "How are
you?" fragt er, als ich vorbeikomme, und mit einem: "Take it, please" reicht er mir ein Stück
Chikkli, eine aus Kokosnuss, Erdnüssen und Zucker gepresste Süßigkeit. Sein Bruder wacht
auf, noch zerschlissener, noch drahtiger wie Nakim. Er verteilt Bidis. Seltsam. Wie glücklich
und verwirrt ich jetzt bin. Indien wird dich töten oder erlösen, sagen sie hier. Aber nie wird
dein Herz stillstehen, immer wieder wird es sich erregen beim Anblick des Nichtfassbaren.
Der Einsatz leuchtender Farben im alltäglichen Leben abseits von Werbeflächen lässt schon mal die Kitsch-Alarmglocken schrillen. Was aber an schier unmöglichen Farbkombinationen möglich ist, wenn Licht und Umfeld stimmen, läßt mich in Indien staunen, wo es noch im letzten Winkel visuelle Highlights zu entdecken gibt.
Bunt bemalte Holztüren, Ornamentgeschnörkel und Bilderbuchschichten in
Hauseingangsbereichen und auf Fensterläden, gestapelte Regenbögen aus handgeschöpftem Papier, in wochenlanger Fitzelarbeit prachtvoll verspiegelte Patchwork-Teppiche, die hypnotische Wirkung von in psychedelic Colours strahlenden Hippiemarktständen, mit Lupe auf Marmortäfelchen gepinselte erotische Miniaturmalereien oder eine je nach Lichteinfall anders schimmernde Glasperlenkette sind es wert, den UV-Filter von der Nase zu nehmen und ganz genau hinzugucken. Frauen tragen Stoff gewordene Farbfilme in Form von Saris kunstvoll um den Körper geschlungen mit natürlicher Anmut und angeborenem Catwalk.
Dazu noch das kunterbunte Warenmeer vor Gewürz-Obst-und Blumenläden, bis auf den
letzten Quadratzentimeter detailliert bemalte riesige uralte Tempelanlagen - ein Farbenflash ohne Ende. Manche(r) ertappt sich dabei, flippige Sachen zu kaufen, für die der Mut zuhause meist nur bis zum Briefkasten reicht.
Der Mehrzahl von ihnen begegnet man zu Hause auf Ethnomessen, Worldmusic-Meetings,
Open-Air-Festivals oder Psychedelic-Parties. Ich kenne aber auch Leute, die tapezieren Haus und Wohnung mit indischen Tüchern, nehmen sie an den Strand als Hauswappen und
Sonnensegel mit, spannen sie als Eyecatcher-Tagesdecke über die Lümmelliegewiese, oder
entdecken ihr Farbgefühl neu und batiken selbst welche.
Mein Maler zeigte sein breitestes Sonnenaufgangsgesicht, als mein Finger unter all den
Musterkärtchen zielsicher auf ein sattes Melonengelb tippte. Franz, der damit meiner
Singlelounge den extra Farbkick pinselte, realisierte im melon-yellow-fever lang gehegte
Ornamentideen an der Decke - ins Narrenkastl zu schauen, ist seither ein Genuß.
Der positive Einfluß von Farbe auf Life & Living ist -siehe Indien- keineswegs räumlich
beschränkt. Sie schafft dieses Kunststück auch im großen Maßstab über einen ganzen
Subkontinent und quer durch alle Bevölkerungsschichten. Für nach oh-felix-Austria
heimkehrende Fernreisende wie mich bauen lange danach selbst noch die bunten
überlangen Fingernägel heimischer Supermarktkassiererinnen Brücken nach Goa.
Überall in Indien fällt auf, dass auch an niederste Arbeiten mit schier unerschöpflichem
Ideenreichtum, begeisterndem Einsatz und bewusst positiver Körpersprache -ja fast
rituellen Bewegungsabläufen- herangegangen wird. Jede(r) hat immer etwas für jemand zu
tun und macht dies augenscheinlich für jede(n) gerne. Ist kein potentiell interessierter
Kunde in Sicht, werden geringfügige aber sofort sichtbar prägnante Änderungen der
Warenpräsentation vorgenommen, Beziehungen zum benachbarten Laden aufgefrischt oder
man unterzieht sich selbst kurz einem persönlichen Spiegelcheck und testet bei der
Gelegenheit die neueste angesagte Räucherstäbchenduftnote.
Welch unliebsames Erwachen, wenn einem nach der Rückreise schon die Bedienung im
Flughafenrestaurant Frankfurt mit essigsaurer Miene, auf den Tisch geknallten Gläsern und
militant forscher Abkassiermethode klar zu verstehen gibt, dass ihr Gäste (die mit satter
Urlaubsbräune wahrscheinlich doppelt) ihr Job im Speziellen und Business im Allgemeinen
wieder mal extrem am supersize Allerwertesten vorbeigehen.
Basare bieten alles, was der Mensch benötigt. Ballen von Seide für Saris, weißes Leinen für Kurta und Dhoti, die gängige Männerkleidung. Gewürze, frisch geköpfte Hennen,
Fischberge, gebrauchte Autobatterien, Kikarholz zum Zähneputzen, Betelnüsse - zubereitet
mit Tabak und Kalk - zum Kauen und Spucken, Hochzeitsflitter, Lotterielose, Kuhmist zum
Feuermachen, Stacheldraht, reparierte Mercedeshupen, extrabreite Kloschüsseln und
hellblaue PlayboyBadewannen, eine Million Räucherstäbchen, Götterbildchen mit der
Geschichte von Lord Krishna und dessen 16000 Freundinnen, Zierfische im Glaskrug.
Das und die kleinsten, banalsten, wichtigsten Dinge des Lebens sind hier zu haben.
"You name it, we deliver" steht auf einem verbeulten Blechschild geschrieben.
Ein SandwichMann zieht herum, präsentiert verröchelnde Ratten auf seiner Pappe, erledigt
jedes Untier "forever". Das Gift trägt er im linken Hosensack. Ein alter Mann sitzt in einem
Berg Büstenhalter und verkauft einem anderen alten Mann drei Stück, einen schwarzen,
einen beigen, einen weißen. Unergründliches Indien. Ein Zauberer besitzt zwei Behälter und
einen Ball. Der Ball verschwindet. Ich weiß nicht, wohin. Das ist sein einziger Trick, er hält
ihn am Leben. Einer klebt falsche Bärte. Ein anderer repariert mit Lupe und Kleber zerfetzte
Banknoten. Ambulante Ohrreiniger putzen mit Nadel und Watte für eine Rupie ein paar
Ohren. Jemand sucht gegen Entgelt anderer Leute Läuse. Öffentliche Schreiber schreiben
für Analphabeten. Drogenhändler winken mich in Hausflure, bieten mir Gola, Hasch aus
Kashmir, Bati, grünen Nepalesen, Opium aus Indien und Brown Sugar - Heroin aus Pakistan.
Ein Kräuterweib will mein kurzes Haupthaar retten. Jemand verrät mir: "He´s coming soon".
Er nennt keinen Namen. Ein Sterndeuter verkauft das Datum des nächsten Erdbebens. Eine
Riege liebenswürdiger Lügenbolde phantasiert eine fantastische Zukunft. Ringe blitzen an
ihren Fingern, Glückssteine bedecken den Boden, Rauch zieht davon. Ein zerlesenes Buch
und das Bild des Affengottes Hanuman prophezeien mir: Ich werde 89, bis dahin alles easy,
fame and glory, Geldsäcke, das reinste Glück. Bis Arechya, mein zahnloser Astrologe, alles
zerstört, als er mir für das kommende Jahr eine Hochzeit androht. "Beautiful rich woman"
beruhigt er. Aber das "total issue" meiner Kinder, ist hoch: "Nine", grinst Arechya.
Ein Haus weiter hört man die Tretmühlbohrer des Herrn Singh, eines "Bachelor of Dental
Diseases", und die Schreie eines Patienten, dem er gerade das Gebiss aufbohrt. Die Luftige
Ein-Quadratmeter-Praxis verfügt über die notwendige Gerätschaft. Zwei unverpackte
Spritzen, Ersatzzähne, elf leicht angerostete Eisenfeilen. Und die Wände voller Sonnenbrillen - Singhs Nebenverdienst. In einem Verschlag neben ihm verschleudert Zahid seine "All Pain Tablets". Mitunter räumen Polizisten mit ihren Knüppeln Tische ab. In diesen Fällen liegt ein Zahlungsrückstand vor. Man schaut vorbei, um nachdrücklich an eingegangene Verpflichtungen zu erinnern. Korruption überall. Jeder weiß, dass auf dem Markt lastwagenweise gestohlene Maschinen und Elektrogeräte verkauft werden. Die Polizei weiß es als erstes. Sie ist die letzte, die sich verplappert.
Nebenan In der G.B.Road warten sie - auch 14jährige. Als mir über ein schmieriges
Treppenhaus von oben Polizisten entgegenkommen, verschwinde ich um die Ecke,
Prostitution steht unter Strafe. Man beruhigt mich: "This building is goverment approved,
relax" - heute ist also nur Zahltag für Bordelle. Vor halboffenen Türen schöne Mädchen,
Kinder. Nicht schüchtern, durchaus drängend. Zu viele von ihnen stehen zur Verfügung,
warten auf 100 Rupien "for one shot". Ein Job für harte Nerven, ein versteckter Blick
genügt. Die gerippte Holzpritsche, am Boden das feuchte Klopapier und Gummis, sechs
Quadratmeter ohne Fenster. Bitteres, grausames Indien. Und welche Ironie. G.B.Road
bedeutet hier -offiziell falsch, aber bei den Leuten nur so bekannt- "Gandhi-Baba-Straße".
Das muß ihn treffen, den Mahatma, den flammenden Keuschheitsapostel: sein Name für
eine Puffzeile.
Quell vieler intensiv erlebter Momente sind die Sexclinics, Sexologists, Sexspecialists und
Sextherapists, die im großen Basar von Old Delhi ihren hochdotierten und geheimnisvollen
Gaunereien nachgehen und ich, Verlierer einer dummen Wette, komme als Patient, mein
Leiden: sexuall weakness, das klingt grausam, aber die Herren schmunzeln, wissen schon
Bescheid, beginnen mit einem thorough physical checkUp, also Hose runter, der
schwierigste Moment, da ich schier unaufhaltsame Lachkrämpfe unterdrücke, wenn ich
sehe, wie Sexganoven ihr Handwerk betreiben, Dr.Gupta hört mit dem Stethoskop meine
most private parts ab, Dr. Sablok braucht eine Lupe - wie deprimierend - und der dritte, Dr. Rajinder, fingert mit einem Elefantenvibrator an mir ´rum, doch ich reiße mich zusammen und höre gefasst die Diagnose, die da lautet: kein einfacher Fall, kaum Reaktion, eine Behandlung wäre langwierig, vom Africa Treatment über das London Special bis hin zu den Nawabi Shahana Super Special Pills wäre alles zu haben, von 1150 bis 21000
Rupien, mit luxuriösen Ingredienzen: Moschus, Safran, gestampfte Kräuter und
Pflanzen, Edelsteinpulver, Goldstaub, Silberkrümel, einfach alles, einzunehmen zweimal
morgens, zweimal abends, mit Milch, die Instruktionen sind umfangreich, klingen
umständlich kompliziert, während nebenan bei Allgemeinarzt Balraj Dhir und dessen zwei
Helfern rasch und effizient gearbeitet wird, dort schreibt der Doktor auf Rezeptformulare mit elfzeiligem Briefkopf, das lieben die Inder, so eine pyramidale Lebkuchensprache, die aus einer ebenerdigen Bruchbude ein Forschungslabor zaubert und - Ayurveda schafft
Vertrauen, ist die Wissenschaft vom langen Leben, reine Naturmedizin, zudem ist der
Meister Gold Medalist und Psychiatrist, ein weiser Mann, der das Valium meistens im
Schrank lässt, wie er mir sagt, während er noch mit anderen Patienten diskutiert, im
Augenblick sind es vierzehn auf acht Quadratmeter, plus des Doktors Fahrrad, das an der
Wand lehnt, plus einer bauchkranken Frau auf der Holzbank hinter dem Vorhang, den Stoß
Zeitungen als Kopfkissen, ein Taubenschlag, Verband herunter, desinfizieren, Salbe drauf,
neuer Verband, Schleife binden, "one rupee" - diese magische Ein-Rupie-Münze - "next,
please" größere Wunden machen 50 Paisa mehr, mit Großmutters Haushaltsschere
einen Fingernagel aus dem Eiterbett schneiden, eine gequetschte Zehe beruhigen,
einen Abszess öffnen und die Penizillinspritze rein, Fäden aus zwei Kopfhäuten ziehen -
einmal Unfall, einmal Polizeiknüppel, Kindertränen, Männerflüche, Frauenseufzer hinter
vorgehaltener Hand, wo getuschelt wird, bei Mohammed Ghayas wäre alles anders, ein
ehemaliger Ringer, der jeden Sonntag ganz in der Nähe seine Praxis unter freiem Himmel
installiert, ein paar breite Schnüre, eine Rasierklinge, Phans Kholnaa nennt er die Methode,
was soviel heißen soll wie: einen Knoten lösen, und alle Mühseligen, Gebuckelten schlurfen
zu ihm her, Söhne transportieren gichtgeplagte Mütter, Ehefrauen ihren ausgepumpten
Rikschamann, Freunde schleppen den hexenschußgequälten Nachbarn, Zuckerkranke,
Arthritisgepeinigte, Bandscheibenopfer, alle hoffnungslosen Fälle, alle: "I tried anything",
Mohammed behandelt jeden, zeigt selbstbewußt seine Pressemappe, ein Fotoalbum, ein
Goldenes Buch, in das vorgebliche Bankdirektoren, Professoren, Schauspieler und das ganz
normale, schwerkranke Fußvolk ihre Dankbarkeit hineingeschrieben haben, selbst die CP,
die kommunistische Partei, wurde geheilt, jedermann preist den guten Doktor vom Meena-
Basar, nur der Informationsminister fürchtet ihn, denn Mohammed will unbedingt ins
Fernsehen, noch ist nichts entschieden, darum kuriert er bis zu 40 Patienten am Tag,
schlechtes Blut ist seine einzige, einmalige Diagnose, es muss raus, er schnürt ein Bein des
Leidenden, die Venen schwellen, vier oder fünf Ritze mit der Klinge in den Fußrücken und
das böse, das schwarze Blut fließt ab, mit Wasser nachspülen, abwarten, ein bisschen
Zementpuder auf die Wunde, geheilt - und wenn nicht, schwierige Fälle kommen wieder,
wem die Sinne schwinden, weil er das Messer fürchtet, der wird behutsam gebettet, Ziegen und Gänse schauen zu, die Sonne brennt, auf dem wackligen Holztisch ein Bild von Buddha, er soll Mohammed im Traum das Rezept für eine Salbe gegen Kinderlähmung geflüstert haben, stolz holt er aus dem Schrank mit dem Viehfutter die Dose, zeigt ihn mir, den braunen Batz, im Bedarfsfall - bei ersten Lähmungserscheinungen - sofort auftragen,
mehrmals .. oh heiliger, oh wunderbarer Schwachsinn.
Ich verdanke der von Inge S. souverän und sehr individuell geführten Rajasthanreise und
dadurch erst möglichen Bekanntschaft mit Gleichgesinnten und allerorts liebenswerten
Einheimischen meinen Nickname "Ganesh-Baba" und seine GoodVibes. Bei diesem sehr
familiären Background war es mir ein Leichtes, der oft sehr eigenwilligen AdventureNase für
rightTime&Places zu folgen. Eine Kombination glücklicher Umstände, die mir Inspiration für
persönliche Aufzeichnungen, frozenTime in Bildern war und immer noch ist.
Ich danke in diesem Zusammenhang für Begegnungen der sehr berührenden Art, Fortuna für die Möglichkeiten dazu und natürlich dem geneigten Leser, dass er selbst dem langen Satz zuvor, fern dem abgewetzten Kritzelbuch mit Eselsohren, seine Aufmerksamkeit schenkte.
Danke und: Ja, fahrt -wenn irgendwie geht - unbedingt auch dort hin. Fliegt preisgünstig,
nehmt private Gästehäuser statt teure Hotels, und investiert ohne Umweg in all die so
selbstverständlich hilfsbereiten Leute vorort. Sie werden sich - liegt am Elefantengott - bei
einem zufälligen Wiedersehen